Take it off the Page – Textlernen wie ein Esel
Der Text ist tot! Lang lebe der Text! Der Text ist nicht heilig. Der Text bedeutet dir etwas. Der Text gehört nicht dir. Das Ziel ist nie den Text zu können. Sondern mit all seinen Sinnen von Moment zu Moment wie zufällig den Text zu sprechen um zu bekommen, was man gerade will und dabei die Beziehung zwischen den Figuren zu verhandeln. Wie lernt man den Text von Anfang an so, dass er uns nicht im Weg ist. Sondern uns hilft darin zu entdecken, was es zu entdecken gibt und ihm Leben einzuhauchen.
Esel sind wasserscheu, und weigern sich beharrlich auch nur die kleinste Untiefe zu durchqueren, weil sie durch die spiegelnde Wasseroberfläche nicht erkennen können, wie tief der Bach ist. Daher baute man ihnen an solchen Stellen oft kleine Brücken, die sogenannten „Eselsbrücken“. Analog dazu ist eine sprichwörtliche Eselsbrücke ein Umweg oder besonderer Aufwand, der dennoch schneller – oder überhaupt erst – zum Ziel führt.
Unser Verstand ist wie ein Esel. Gutmütig, belastbar, hartnäckig. Aber eben manchmal auch stur und störrisch.
Wenn man einen Text lernt, gibt es – wie bei allem im Leben – zwei grundsätzliche Motive: Innere und Äußere. In der Psychologie unterscheidet man intrinsische und extrinsische Motivation. Intrinsisch ist alles, was sich aus sich selbst heraus motiviert. Ohne äußere Anforderungen, Zwänge oder Belohnungen. Extrinsische Motivation ist vom Außen abhängig. Glauben wir. Denn natürlich sind auch die Impulse, mit denen wir auf äußere Anforderungen und Zwänge reagieren, in Wahrheit unsere eigenen. Solange wir nicht wirklich gezwungen werden, entscheiden wir selbst, ob wir ihnen entsprechen wollen, oder nicht.
So kann es uns passieren, dass wir ganz alleine und obwohl niemand uns zwingt einen Text aus einer ungünstigen externen Motivation heraus lernen: Aus Ehrgeiz.
Der Text ist nicht heilig.
Wenn man einen Text mit dem Ziel lernt, ihn zu beherrschen, lernt man aus Ehrgeiz. Dabei nimmt man den Text auf seiner symbolischen Ebene (Buchstaben, Worte) oft viel zu wichtig. Man stellt sowohl den Text samt Autor und in weiterer Folge später auch die Vision der Regie gottgleich über sich selbst, und will diesen überhöhten Idealen unbedingt entsprechen. Man gibt diese phantasierten äußeren Anforderungen und Zwänge an seinen Verstand weiter und verlangt von ihm eine völlig unnatürliche Aufgabe: Sich eine elendslange Zeichenkette von Symbolen in der richtigen Reihenfolge einzuprägen. Möglichst ohne dabei den Faden zu verlieren.
Aber weil unser Verstand ein braver Esel ist, schafft er sogar das, wenn wir ihn mit der Peitsche antreiben, und ihn (und damit auch uns selbst) nur oft genug für seine Fehler bestrafen. Das Problem dabei: Durch diese klassische Art zu lernen, prägt sich der Text wie eine heilige Schrift in einem einzigen Block in unserem Gedächtnis ein. Aber kein Mensch, hat das was er sagt, wie eine Text-Datei in seinem Kopf abgespeichert. In einem natürlichen Gespräch nehmen Emotionen und Ideen zufällig und spontan die Form an, die sie eben annehmen. Der Text eines Stückes oder einer Szene ist nicht heilig. Sondern vielmehr eine stenographische Mitschrift eines lebendigen Moments. Er ist eben nur eine starre Skizze. Der Text ist tot. Wenn man jetzt diesen toten Text in seinem Kopf als die Grundlage seines Spiels nimmt, bleibt einem nichts anderes übrig, als die Worte zu gestalten, sie mit Färbungen und Emotionen zu verzieren, um endlich vom Text loszukommen, die Rolle zu finden, oder ins spielen zu kommen. Aber all das bleibt ein geführtes, outriertes Gestalten, solange man am Text festhält und damit an der extrinsischen Motivation, zu beweisen, dass man ihn kann. In einem erfolgreichen Probenprozess überwindet man also den eigenen Ehrgeiz den Text zu beherrschen und sucht die Lust am Moment, um so dem Text wieder leben einzuhauchen. Dabei vergisst man sogar die heilige Schrift im Kopf völlig, weil man sie ins Unterbewusstsein absickern lässt… In Wahrheit aber lernt man den Text während den Proben einfach ein zweites mal. Nämlich lustvoll: Wer spielt, benütz seine Phantasie um sich von seinen Umständen zu befreien; so auch von seinem Ehrgeiz und vom “heiligen” Text.
Der Text bedeutet dir etwas.
Harold Guskin beschreibt in seinem Buch How to Stop Acting eine andere Methode sich dem Text zu nähern, die er Taking it off the Page nennt. Für ihn beginnt die Probe bereits mit dem ersten Kontakt zwischen Schauspieler und Text. Die Grundidee: Bevor man den Text auswendig lernt, soll man verstehen, was er bedeutet. Seine Bedeutung ist aber keine starre Wahrheit, die es nur analytisch herauszufinden gilt, sondern eine höchst persönliche Assoziation, ein Gefühl oder eine Erinnerung, ein dynamisches Verständnis, das sich auch von mal zu mal ändern kann. Genau wie man auf einer Probe mit dem Partner spielt, soll man also bereits lustvoll mit dem Text spielen, und so langsam eine Beziehung zu ihm aufbauen, die sich nach und nach vertieft.
Taking it off the Page – Übung nach Harold Guskin
- Man sitzt entspannt mit seinem Text vor sich.
- Man liest still eine Zeile oder einen Halbsatz (genau so viel, wie man gerade Lust hat und fassen kann).
- Währenddessen atmet man ruhig ein und aus und lässt alle spontanen Gefühle und Assoziationen zu.
- Man lässt sich alle Zeit, die man braucht…
- Bis man die persönliche Bedeutung, die diese Worte gerade in einem auslösen, gefunden hat.
- Man atmet aus. Blickt vom Text auf und spricht die Worte aus. Und lässt sie ihre finale Bedeutung selbst finden.
Das wichtigste dabei ist, dass die Bedeutung, die man mit den Worten ausdrückt, wirklich die eigene persönliche, spontane Reaktion auf den Text ist und nicht eine intellektuelle Erklärung, also eine Interpretation, wie man glaubt, dass man den Text sagen sollte. Wenn man sich die Zeit nimmt und beginnt den Text auf diese Art zu lernen, zerlegt man ihn in viele kleine Fragmente, verknüpft ihn organisch mit den eigenen Assoziationen und bringt ihn bereits mit den verschiedensten Emotionen in Kontakt. Anstatt eines einzigen Textblocks von Symbolen, die nur eins an das andere geknüpft sind, entstehen viele kleine Knoten- und Anknüpfungspunkte in unserem gesamten neuronalen Netzwerk.
Dadurch nähert man sich dem Text intuitiv und macht ihn sich langsam zu eigen. Bei jedem neuen Durchgang, können sich neue Bedeutungen dazu assoziieren. Die Knotenpunkte werden immer dichter und der Text lagert sich langsam und verteilt wie unzählige Inseln im Gedächtnis des Schauspielers ab.
Guskin betont, dass man seine Übung nicht (ehrgeizig) zur Methode machen, sondern spielerisch bleiben soll. Alles was uns inspiriert und befreit, nützt uns auch.
Der Text gehört nicht dir.
Aus dieser Übung heraus, kann man direkt ins spielen kommen, und so nach und nach Textsicherheit erreichen. Man muss sich dabei nicht zwingen, den Text weg zu legen. Sobald man gut genug weiß, was man sagen will, wird man ganz automatisch von der einen Bedeutung zur nächsten gelangen. Und falls nicht, muss man sich nicht bestrafen: Wir kennen den Text gut genug, und sind mit ihm vertraut. Es reicht ein kurzer Blick auf die nächste Zeile. Der Text ist immer da, wenn wir ihn brauchen. Paradoxerweise lernen wir gerade so von Anfang an uns selbst zu vertrauen und nicht am Text zu kleben.
Obwohl man den Text dadurch nach und nach assimiliert, kann er uns nie gehören, da die persönliche Bedeutung, die wir in ihm gefunden haben, sich je nach Situation von Moment zu Moment wandelt.
Um den Text im Spiel weiter zu erforschen, kann man aus dem Gefühl heraus und den Assoziationen, die er gerade auslöst, spontan eine Intention entwickeln: Was will ich mit dem Text gerade sagen? Was will ich jetzt mit ihm bei meinem Partner erreichen? Und was löst das wiederum bei mir aus? Wenn wir sprechen, wollen wir unsere Gefühle und Ideen mitteilen, und stoßen mit unseren Worten im Hier und Jetzt auf Hindernisse. Wir wollen schreien, aber dürfen nicht. Wir ärgern uns, wollen aber höflich bleiben. Wir sind überrascht, welche Färbung unsere Worte annehmen, je nachdem mit wem wir reden. Unsere innere Motivation gerät in Konflikt mit unserem Wunsch der Situation und den anderen zu entsprechen – kurz mit unserem Ehrgeiz uns keine Blöße zu geben.
Wenn man seinen Ehrgeiz also spielerisch auf die Situation und den Partner konzentriert (anstatt darauf den Text zu können), wandelt er sich zu einer konstruktiven Kraft, die uns neue Einblicke in den Text und uns selbst offenbaren kann. Und zwar eben weil uns der Text nicht gehört. Er lebt nur in Beziehung zwischen den Figuren. Er ist eine Botschaft, die ohne den Empfänger nicht komplett sein kann.
The actor doesn’t need to become the character.
There is no character. There are only lines on a page.
– David Mamet
Das Ziel ist nie den Text zu können. Sondern mit all seinen Sinnen von Moment zu Moment wie zufällig den Text zu sprechen um zu bekommen, was man gerade will und dabei die Beziehung zwischen den Figuren zu verhandeln.
Wenn man Text lernt, sollte man ihn deshalb nicht auswendig lernen, sondern direkt üben den Text zu spielen. Das heißt ihn zu verstehen und ihn zu atmen, herauszufinden, welche Gefühle in einem selbst diesen Text verwenden würden um sich auszudrücken. Es ist ein unter den Text schlüpfen. Ihn ausfüllen mit der eigenen Lebendigkeit. Und so bald wie möglich seine Grenzen ausloten im Spiel mit einem Partner. Das braucht zunächst mehr Geduld, führt aber insgesamt schneller und sicherer ans Ziel. – Wie eine Eselsbrücke.
– Jerry