Schauspiel und “The Fear of Being looked at”
Keith Johnstone hat für mich das Grundproblem des Menschseins und des Schauspielens auf den Punkt gebracht:
Die Angst überwinden. Woher kommt diese Angst?
“Oh, a universal phobia of being looked at.”
– Keith Johnstone (Interview auf Youtube)
Und wieso haben wir diese universelle Angst? Weil wir alle sozialisiert wurden. Wir alle mussten lernen, welche Verhaltensweisen akzeptabel und welche zu unterlassen sind. Als Kinder haben wir gelernt, uns zu verstellen. Uns anzupassen. So hat sich unser Verstand überhaupt erst entwickelt: Um die natürliche Spontanität des Kindes zu kontrollieren. Um “gute” Entscheidungen zu treffen und die gewünschten Verhaltensweisen an den Tag zu legen. Wir verinnerlichten die Stimmen und Vorstellungen unserer Eltern und machten sie so zu einem Teil von uns selbst.
Die kindliche Psyche begeht dabei allerdings ein folgenschweres Missverständnis:
Sie trennt ihr SEIN nicht von ihrem HANDELN und glaubt daher folgerichtig, dass ein Teil des Kindes selbst schlecht und unerwünscht sein muss.
Das Kind glaubt: Ich bin nicht gut (genug).
Also: Muss ich besser werden. Ich muss meine spontanen Impulse oder sogar meine Gefühle kontrollieren.
Und ab da beginnt ein Prozess der kindlichen Entfremdung.
Das Kind weiß wohl, dass es “nur so tut” als ob. Es spürt noch immer seine ungewünschten Impulse und Gefühle, und hat fortan Angst durchschaut zu werden. In seinem Schauspiel aufzufliegen. Davor, dass seine wahre (schlechte) Natur entdeckt wird.
For there is nothing either good or bad, but thinking makes it so. To me it is a prison.
– Hamlet, W. Shakespeare
Weil das Kind seine Eltern ernst nimmt, glaubt es an die Phantasie von Richtig und Falsch, die sie ihm suggerieren und vorleben. Die einzige Möglichkeit um mit seiner inneren Zerrissenheit umzugehen, ist sie zu verleugnen und zu beginnen sich mit der Rolle, die ihm die Eltern zuschreiben, zu identifizieren. Das Kind beginnt zu glauben, dass es die von ihm gewünschte Rolle nicht nur spielt, sondern, dass sie seine wahre Identität ist. Sie wird zu seinem Charakter. Sein wahres Selbst hingegen liegt verleugnet unter dieser Schicht an Vorstellungen und muss völlig unbewusst bleiben, sonst würde die Maskerade sofort in sich zusammen brechen. Wir haben vergessen, dass wir eine Rolle spielen. Was bleibt, ist unsere universelle Angst, dass wir beobachtet und unsere wahre Natur entdeckt werden könnte.
Wenn wir uns von dieser Angst befreien wollen und so auch andere Charaktere spielen und das volle Spektrum unserer eigenen Facetten leben wollen, müssen wir uns folgender fünf unterbewussten Vorgänge also wieder bewusst werden:
- Wir spielen eine Rolle um geliebt zu werden.
- Wir glauben, dass unsere Phantasie von Richtig und Falsch, wahr ist.
- Wir haben Angst davor, dass unsere wahre Natur entdeckt wird.
- Wir zensieren unsere natürliche Spontanität (Impulse, Gefühle).
- Wir glauben, dass wir nicht genug sind.
Die Kunst des Schauspiels zu erlernen, heißt also zu aller erst, sich über sich selbst bewusst zu werden. Und damit über diese fünf inneren Denkfehler, die für unsere Sozialisierung notwendig waren.
Alle grundlegenden Schauspielübungen versuchen einen oder mehrere dieser Denkfehler zu korrigieren.
Analog dazu kann man sie in Fünf grundlegende Kategorien einteilen. Sie schulen:
- VERTRAUEN, damit wir unsere Maske abnehmen können.
- WAHRNEHMUNG/PHANTASIE, um unsere einengenden Illusionen loszulassen und wieder zu sehen, was ist.
- SPONTANITÄT, um zu lernen, dass wir Fehler machen dürfen.
- GEFÜHLE, um zu spüren, wer wir wirklich sind, was wir vor uns geheim halten und was wir wirklich wollen.
- SEIN/ATEM+FOKUS, um zu verstehen, dass wir nichts tun müssen, um da sein zu dürfen.
Acting is the ability to live truthfully under given imaginary circumstances.
– Sanford Meisner.
Deswegen müssen wir zu aller erst unsere eigenen imaginary circumstances überwinden. Wir müssen den Mut finden, das loszulassen, was wir glauben zu sein. Erst dann können wir unser eigenes Leben mit unserer inneren Wahrheit erfüllen, und erst danach können wir durch die Kraft unserer befreiten Phantasie auch jeder anderen Rolle von Moment zu Moment Leben einhauchen.
– Jerry